„Da es sich nicht um Damen handelt, sondern um „Dirnen aus dem Volk“, kündigt sich hier die Herrschaft eines neuen Menschentypus an, für den die aristokratische oder intellektuelle Welt zwar Verachtung zeigen kann, von dem sie aber hinweggefegt oder ignoriert wird, was dasselbe ist. Die Unterschichtsgrazien sind nicht mehr nur Anhängsel der Reichen oder solcher Leute wie Bloch, sondern souveräne Herrscherinnen.“ (Jochen Schmidt, Schmidt liest Proust).

Ein Schönheitsfleck auf dem Gesicht Albertines, der mal hier und da auftaucht. Für Marcel ist Albertine eine „radfahrende Bachantin“, „orgiastische Muse des Golfspiels“, die immer wieder auf neue Weise wirkt. Heute ein geröteter Fleck auf ihrer Schläfe, den Marcel als nicht besonders schön empfindet, eine unvermutete Schüchternheit, „eher befangen als erbarmungslos.“

Die Albertine vom Strand gibt es in der Realität nicht. Die erfundene Albertine ist eine idealisierte Projektion Marcels und hat mehr mit Marcel als mit Albertine zu tun. Der idealisierten Albertine versprach er seine Liebe. Marcel fühlt sich verpflichtet, das Versprechen aufrecht zu erhalten. Er muss mit der realen Albertine Vorlieb nehmen Überlegungen Marcels, sein Interesse auch auf die anderen Mädchen der kleinen Schar auszudehnen

Die kleine Schar hat es in sich. Wohlerzogene Mädchen dürfen sich im Kasino nicht aufhalten, weil sie sich dort von „braungebrannten Jungfrauen“ ( kleine Schar) unangemessene Verhaltensweisen abschauen könnten.

Ich glaube, dass Jochen Schmidt sich hier vertut. Es sind ja keine Dirnen aus dem Volk, sondern Damen. Kaufmannstöchter. Sie sind jung und brechen alte Traditionen auf.

Dann würde der ganze Erklärungsansatz nicht funktionieren.

Hitze.

Abends mit Sina beim Bootshafensommer.

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2 Antworten zu „Proust lesen Tag 61 – Jochen Schmidt liest Proust – Kleine Schar Dirnen aus dem Volk oder Kaufmannstöchter? – Ideal und Wirklichkeit bei Albertine – Im Schatten junger Mädchenblüte”.

  1. Avatar von gkazakou

    „Ist es wirklich so, dass wenn man an dem Platz an dem man ist nicht glücklich ist, man nirgendwo glücklich wird. “ – Hm, ich vermute, dass es im Großen Ganzen stimmt, denn „Glücklichsein“ ist ein inneres Vermögen, ein geradezu angeborenes Temperament. Ein „Melancholiker“ ist nicht glücklich, nirgendwo, ein „Sanguiniker“ findet sich überall zurecht. Aber natürlich kann ein Ort mehr oder weniger passend sein für dieses „Temperament“, das sich arg bedrückt fühlen oder voll entfalten kann, je nach Umständen. Der ständige Ortswechsel beim Reisen gebiert bei vielen Menschen Glücksmomente schon deshalb, weil man mit äußeren Eindrücken geflutet wird und sie nicht in sich selbst erzeugen muss. Für andere ist es hingegen eine Qual, weil sie nichts vertiefen können und erst in der Vertiefung so etwas wie Glück empfinden. Außer einer Frage des Grund-Temperaments ist es wohl auch eine Altersfrage.

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    1. Avatar von Xeniana

      Ich fand das eine sehr auf den Punkt getroffene Klassifizierung, eine Antwort die mich immer noch begleitet. Danke Gerda!

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