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“ Unterm Eis eines großen Flusses, der durch eine sehr alte Stadt in der südöstlichen Mitte der Welt floss, trieb eine junge Frau.“
( Zum Prolog: die junge Frau könnte Negosava sein, die das Massaker überlebt oder Negosava träumt es, imaginiert es. ( C. Meyer Interview.)
Ein namenloser Fremder, bekleidet mit einem grauen Wolfspelz, ist in Novi Sad unterwegs..
Es ist ein bitterkalter Winterabend im Januar 1942, in der nordserbischen Stadt Novi Sad in Jugoslawien. Die Stadt ist von den Achsenmächten, vor allem vom ungarischen Militär besetzt.
Der Fremde sucht ein Kino, dass er aus früheren Zeiten kennt.
Bis auf die Suche nach dem Bioskop, schlendert er scheinbar ziellos durch die Stadt. Gibt sich bei Grenzposten als Ungar aus, bewegt sich durch die immer dunkler und kälter werdende, anbrechende Nacht als Beobachter. Die Atmosphäre in der Stadt ist angespannt, von Misstrauen geprägt. Der Vorabend des Progroms.
Clemens Meyer verleiht seinem namenlosen Protagonisten visionäre Fähigkeiten und die Möglichkeit, sich an diesem Abend frei durch die Zeit und die Stadt zu bewegen. Er taucht auf und verschwindet, nur um wieder aufzutauchen.
Eine Stadt im Krieg: Stahlhelme, Passkontrollen, Soldaten, Wachposten.
Etwas kündigt sich an. Im Schweigen und der Stille um die Synagoge, in der fahrigen Nervosität auf dem Bahnhof, im Hall von vereinzelt fallenden Schüssen.
Im Bahnhof trifft der Fremde eine junge schüchterne Frau – Negosava. Sie arbeitet als Dienstmädchen bei einer Familie, versucht auf dem Bahnhof bei Schwarzhändlern, Camelzigaretten für den Hausherrn zu erstehen, der verschwunden ist. Im magischen Denken der Kinder der Familie, sind die Zigaretten das Wunderwerkzeug, dass den Vater nach Hause rufen wird.
Das Morden kündigt sich an, ist vielleicht schon im Gang. Der Namenlose im Wolfspelz trägt jetzt ein Abzeichen der Ustascha am Ärmel.
Er überzeugt Negosava, mit ihm ins Kino zu gehen.
“ Weil wir hier wegmüssen.“
Das Bioskop als Zufluchtsort vor dem Grauen, dass sich sinnlos Bahn bricht.
Gegenwelt Bioskop.
Es wird die Verfilmung des Abenteuerromans von Karl May gezeigt: “ Durch die Wüste.“
Ob der Fremde, der mit Negosava im Kino sitzt, ein doppeltes Spiel spielt, bleibt zubächst offen.
Visionäre Bilder, Realität, Überblendungen, Bilder auf der Leinwand; alles greift ineinander, verschiebt und überlagert sich.
Alptraum und Wirklichkeit. Standortbestimmung schwierig.
Der namenlose Fremde und Negosava fliehen. entlang am Strom, der die Stadt durchfließt.
Unterm Eis treibt die Leiche einer jungen Frau.
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Thema ist, das Massaker von Novi Sad 1942. In einer Vergeltungsaktion an serbischen Partisanen, wurden innerhalb von drei Tagen, über eintausend Zivilisten hingerichtet. Einen Teil von ihnen, trieb das ungarische Militär, bei minus dreißig Grad, in Unterwäsche auf die zugefrorene Donau. Dort wurden die willkürlich ausgesuchten Zivilisten erschossen und in die eigens dafür ins Eis geschlagenen Löcher, in die Donau geworfen.
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Diese Bestialität bringt Clemens Meyer sprachlich poetisch zum Vorschein, ohne sie direkt zu benennen. Atmosphärisch dicht, existiert dieses Verbrechen, in Andeutungen und Leerstellen.
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(Habe heute erst entdeckt, dass die Nacht im Bioskop, bereits 2020 als Erzählung erschienen ist. Demzufolge bin ich im Netz auf Buchbesprechungen gestossen und habe den Inhalt des bisher Gelesenen nun vielleicht verstanden)
Ich freue mich über einen Kommentar