1974
Morgens war ich an ein seltsames Buch geraten, „Der Zauberer von Oz“ und hatte plötzlich mit Dorothy und Toto am Tisch im Plattenbau gesessen. Mutti war studieren in der Hauptstadt und Vati arbeiten.
Ein warmer windstiller Sommermorgen.. Die Pappeln standen kerzengerade. Warteten sie auf das “ Rührt euch?“ Oder ahnten sie das Unheil voraus ?
Es war ein„nicht richtiges Buch“ das ich mir aus dem Schwarzen Raumteiler im Wohnzimmer geholt hatte.
Es ist am besten, wenn ich der Reihe nach erzähle, wie Dorothy und Toto plötzlich aus dem Buch fielen. Das Problem ist, dass all das sich nicht der Reihe nach erzählen lassen will.
Diese blöde Neugier. Jetzt war dieses Mädchen am Tisch. Es sprach eine Sprache die ich nicht verstand und keiner weit und breit der ein paar Pelmeni oder Kohlrouladen zubereiten konnte.
Wir aßen die Plätzchen von Oma Rose, die wohnte unter uns und sah nach mir, wenn ich allein zu Haus war. Oma Rose – immer in Dederonschürze und Lockenwicklern.
Dorothy sass am Tisch und kaute auf den Keksen.
Ihr Rucksack öffnete sich unvermittelt und ein entfesselter Wind fegte alles vom Tisch. Er stieß uns in die Luft und trug uns mit sich fort.
Aus heutiger Sicht: der war unmöglich drauf. Völlig außer Rand und Band.
Total drüber. Das Haus ließ er stehen, aber uns nahm er mit. Trieb uns über die Flachdächer von Block 635/2 und Block 728/4, ließ uns den Panzerzug, das Gastronom, die Lenindenkmäler, Frauenbrunnen und die Eselsmühle von oben sehen und sang dazu: “ Immer lebe die Mutti und auch ich immer dar.“
Ich habe mich manchmal gefragt, ob so was passiert, wenn man die falschen Bücher liest.
Dorothy brachte der Wind nach Kansas. Sie hätte keine Aufenthaltserlaubnis, da war der Abschnittsbevollmächtigte streng.
Das Haus in das der Wind mich absetzte, war ein Haus voller Kinder, einem Schlafsaal, einem Garten. Keine Ahnung ob das ein Haus mit Kindern war, die alle die nicht richtigen Bücher gelesen hatten, mit dem nicht richtigen Inhalt. Den nicht richtigen Narrativen.
Aber wir waren drei, vier, fünf oder sechs Jahre alt und hatten ja gar nicht selbst lesen können, also muss es uns jemand vorgelesen haben, oder oder der Wind hatte sich im Land geirrt.
Es gab Tage in diesem Haus der temporär Elternlosen, die waren gar nicht so unlustig ( manchmal), ehrlich wir spielten da im Garten Cowboy und Indianer. Aber die meiste Zeit vermissten wir unser Zuhause, unsere Eltern, die Freunde. Und dann war da ein tiefer Abgrund von Verlassenheit und Traurigkeit.
Der Wind dieser Egoist, hatte sich Wurzeln gewünscht und dafür unsere geraubt. Die gab er nicht mehr her. Alles gab er wieder her, aber nicht die Wurzeln, da war er Beinhart.
Noch viele Jahre später, da war ich längst zurück zu Hause, träumte ich in manchen Nächten einen wiederkehrenden Traum, dass der Wind an den Fenstern rüttelte, mich wegriss und irgendwohin trug. Dann wachte ich desorientiert und panisch auf. Froh dem Wind aufs erste entkommen zu sein.
Wäre der Wind fair gewesen, hätte er gesagt, du hast jetzt ein paar Jahrzehnte Ruhe. Er hätte uns unsere Wurzeln wieder gegeben. Sagen können: verankert dich ruhig, ich nehme dich erst dann und dann wieder mit. Aber so ist der Wind nicht. Er lässt alle mit denen er spielt im Unklaren und das einzige was du tun kannst, ist, immer einen gepackten Koffer neben dir stehen zu haben.“.
.
——–
Ich freue mich über einen Kommentar