Du könntest deinem 17 Jährigen Ich die“ Suche nach der verlorenen Zeit“ in die Hände legen und einen Brief dazu schreiben ( sagt K.)

Guben 1987

Liebe X. schreibe ich: die Brücke nach Gubin in Polen wird in zwei Jahren passierbar sein. 

Dann bist du schon nicht mehr in dieser kleinen Stadt.

Das Werk in dem du Früh und Spätschichten arbeitest, wird schließen. Genieße die Zeiten des Materialausfalls, in denen du lesen kannst. Diese Zeiten werden nicht wiederkommen.

Ein seltsamer Einbalsamierer wird in diesem Textilwerk einen Standort aufmachen.

Merke dir wie dein Lehrlingswohnheim aussah, ob es Ein oder Zweibettzimmer sind.

Pass auf dein Bein auf, wenn du auf den Sozius der MZ steigst. Ich weiß,  du wirst dir eine Brandwunde holen die es in sich hat. Die Narbe ist verblasst, aber noch vierzig Jahre später sichtbar.

Mache Fotos. Von allem. Von der Wohnung, in der du zeitweise lebst, von der Küche, von den Möbeln.

Das alles wird untergehen. Du musst es bewahren.

Es ist ein Land, welches es bald nicht mehr gibt. Eine lange Reise liegt vor dir.

Schreibe die Jugendstunden in der Kirche auf und das erste Joe Cocker Konzert. Schreibe die Kandidatenschulungen für die SED auf. Ich weiß, das wird deine erste heftige Desillusion. Du wirst nicht eintreten. Wirst den Ärger trotzig in  Kauf nehmen. Du wirst Sätze hören wie:

“ Schreiben Sie eine Begründung für ihren Nichteintritt.“

Oder: 

“ Eine Hand wäscht die andere. Und wenn die eine nicht wäscht, wäscht die andere auch nicht.“

Mit 18 Jahren hast du den Berufsabschluss in der Tasche. Sie stecken dich als Facharbeiterin in eine kleine Abteilung. Du wirst das Gefühl haben zu ersticken.

Sie delegieren dich nicht, trotz sehr guter Noten.

Halte alles fest. Erinnere dich genau. Halte nichts für unbedeutend.

Du wirst ein halbes Jahr arbeiten und wissen, dass das hier eine Sackgasse ist.

Du kehrst in die Plattenbaustadt zurück. Arbeitest ungelernt im sozialen Bereich.

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4 Antworten zu „Erinnerungen”.

  1. Avatar von andrea

    Das ist schön geschrieben!

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    1. Avatar von Xeniana
  2. Avatar von Grinsekatz

    Ich hatte all dies nicht auf dem Schirm, damals. Jung, doof, überheblich. Nichtwissend. Nur sehr vereinzelt waren mir Menschen aus dem anderen Deutschland begegnet. Exoten irgendwie, was die erzählten, war krass – aber weit weg. Die Niederlande waren mir vertrauter als die SBZ, wie der Osten hier genannt wurde. Wobei auch bei uns fremde Herren herrschten. Die waren nur geschickter als die Russen.

    Geschichte …

    L.G., Reiner

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    1. Avatar von Xeniana

      Mir ist erst im Nachhinein klar geworden, wie sehr diese berufliche Einschränkung griff. Dieses Gefühl am Anfang deines Lebens zu stehen und nicht weiter zu wissen.
      Ich kann verstehen, dass man sich für die SBZ nicht interessierte.
      Mir ging es andersrum ähnlich, bin. Ich bin immer noch dabei zu verstehen, wie es hier nach 45 weiter ging.

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